Kate Elizabeth Russells „Meine dunkle Vanessa“ als verstörender Versuch, „Lolita“ aus weiblicher Perspektive neu zu erzählen

Von Verena BrunschweigerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Verena Brunschweiger

Literaturkritik, 18.08.2020

Das Motiv der verbotenen Liebe ist seit jeher ein Bestseller-Garant. Romeo and Juliet oder Tristan und Isolde sind seit Jahrhunderten Dauerbrenner und unterlagen zahlreichen Bearbeitungen. Dabei haben wir es in diesen Werken mit relativ harmlosen Konstellationen zu tun, was bei anderen Texten wie beispielsweise John Francis Bloxams The Priest and the Acolyte nicht der Fall ist: Ein Priester verführt einen vierzehnjährigen Messnerknaben, also ein multipler Tabubruch. Die Pädophilie muss aber nicht mal homoerotisch sein oder im kirchlichen Kontext stattfinden, sie kann auch in nahezu klassischem Gewand daherkommen: Ein älterer Lehrer verliebt sich in seine Schülerin und richtet sie dementsprechend zu.

Man hatte ja inständig gehofft, nach den Shades of Grey hätte man wieder ein wenig Ruhe vor devoten, submissiven Frauen, aber weit gefehlt. Die Titelheldin Vanessa ist erst fünfzehn, als sie mit ihrem Lehrer Jacob Strane, 42, eine Affäre beginnt, die sie als solche klassifiziert, als Liebesgeschichte – dabei ist es Missbrauch. Missbrauch durch einen pädophilen Wiederholungstäter, der die Mädchen manipuliert und seine Machtposition ausnutzt, der sie groomt, bis sie keinen eigenen Willen mehr haben:

 

Ich, die für ihn alles stehen und liegen lässt und sich aufopfert, treu wie ein Hündchen, während er nimmt und nimmt und nimmt.

Es gibt nichts, was er nicht mit mir machen dürfte.

 

Das sind nur zwei der schon schwer erträglichen Äußerungen der Schülerin, die immer wieder betont, gleichaltrige Jungs fände sie reizlos, sie hätten Pickelgesichter und werteten Mädchen ab. Die Aufmerksamkeit eines richtigen Mannes hingegen empfindet sie als Auszeichnung, die sie den anderen Schülerinnen überlegen macht. Sie exkulpiert ihren Lehrer auf eine unerträgliche Art und Weise, obwohl er ihr Leben ruiniert hat. Dabei erkennt sie das in ihren lichten Momenten durchaus und sieht auch, was mit einem weiteren Opfer Stranes passiert: Sie erntet Shitstorms, wie alle öffentlich agierenden Feministinnen, inklusive Mord- und Vergewaltigungsdrohungen. Vanessas Empathie hält sich in Grenzen.

Dabei zeichnet sich die Heroine durch zahlreiche antifeministische Einstellungen aus: Slutshaming wird nur angeprangert, wenn es sie selbst trifft, ansonsten partizipiert sie fröhlich wieder und wieder: Eine Mitschülerin, die keinen BH trägt, hat also ein „nuttiges Hemdchen“ an, eine junge Lehrerin wird sogar mehrfach als fett bezeichnet, „ihr Po ragt nach hinten wie eine Ablage“. Ihr Vater ist ihr lieber als ihre Mutter; als ihre Freundin gelobt wird, spürt sie „eine Art Stich im Magen, so etwas wie Eifersucht, nur gehässiger“.

Engstirnig, beschränkt und gewöhnlich erscheinen ihr diejenigen Schülerinnen, die Übergriffe durch Lehrer als inakzeptabel bezeichnen, den ‚Opferfeminismus‘ findet sie explizit daneben. Als sie eines seiner anderen Opfer trifft, hat sie sich bereits überlegt, was sie ihr sagen will: „Schneidende, verletzende Bemerkungen, mit denen ich sie bis zum Knochen aufschlitzen wollte.“ Als sie mit über 30 als Rezeptionistin arbeitet, hilft sie einer jungen Kollegin, die von einem Gast bedrängt wird, absichtlich nicht.

„Alle interessanten Frauen hatten ältere Liebhaber, als sie jung waren.“ – Nein! Natürlich ist das Teil ihrer Strategie, sich den Missbrauch schönzureden, und bis fast ganz zuletzt bleibt sie Strane sklavisch ergeben.

„Wenn ein achtundvierzigjähriger Mann bei einem Mädchen von einundzwanzig keinen Ständer bekommt, was törnt ihn dann an?“ – Weibliche Solidarität? Fehlanzeige. Dabei verdankt sie es einer Therapeutin und einer Hündin, dass sich am Ende ein Hoffnungsschimmer an ihrem Horizont zeigt.

Spaß gemacht hat diese Lektüre nicht, das soll sie wohl auch nicht. Am 13.03.2020 sagte die Autorin im Rahmen eines Interviews, das Fiona Sturges für den Guardian mit ihr führte: „I’ll move wherever you get a job, just don’t expect me to bring in money.“ Diesen Spruch bekam ihr Ehemann zu hören und es betrübt enorm, dass eine relativ junge Frau so wenig Interesse an einem selbstbestimmten Leben zu haben scheint. Diese provozierende Unterwürfigkeit gegenüber allem Männlichen zieht sich betrüblicherweise durch den gesamten Roman, was schade ist, da die Missbrauchsthematik von eminenter Bedeutung ist. So wurde viel Potenzial vergeudet.

In der außerliterarischen Realität haben wir Brigitte Macron, die zeigt, dass man sich als Lehrkraft in jemanden aus der Schülerschaft verlieben kann, dass das in ganz seltenen Fällen durchaus gut enden kann, aber diese spektakuläre Ausnahme ist vielleicht auch deswegen so erfolgsgekrönt, weil sie nicht das ubiquitäre Klischee ‚älterer Mann – junge Frau/Mädchen‘ bedient, sondern das konventionelle Geschlechterverhältnis auf den Kopf stellt…

Erinnern wir uns: 1969 wurde eine 32-jährige Lehrerin, Gabrielle Russier, wegen Sex mit einem 16-jährigen Schüler zu einer Haftstrafe verurteilt – sie brachte sich im Gefängnis um. Der Prozess gegen den französischen Autor Gabriel Matzneff wegen Verherrlichung der Pädophilie wird 2021 stattfinden.

Fakt ist, dass junge Mädchen Aufmerksamkeit brauchen, von uns allen, damit sie nicht glauben, sich diese bei einem alten Mann holen zu müssen. Damit sie genügend Selbstachtung und Selbstwertgefühl haben, um niemals einem Pädophilen oder einem Loverboy – den Jacob Stranes unserer Gesellschaft – zu verfallen.

Titelbild

Kate Elizabeth Russell: Meine dunkle Vanessa.
Aus dem Englischen von Ulrike Thiesmeyer.
C. Bertelsmann Verlag, München 2020.
448 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783570104279

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch