Rebecca Solnit beschreibt in „Unziemliches Verhalten“ den Prozess ihrer feministischen Selbstwerdung
29.09.2020, Literaturkritik.de
Von Verena Brunschweiger
An Virginia Woolf interessiert uns, dass sie A Room of One’s Own und andere grandiose Werke verfasst hat, und nicht, ob sie ihre Reproduktionsorgane benutzt hat – diese fulminante Antwort Rebecca Solnits auf eine Interviewfrage lässt mehr als nur aufhorchen, man erwartet viel von solch einer Autorin.
In der Tat enttäuscht das jüngste Werk der Mansplaining-Publizistin nicht. Man erfährt darin Interessantes über San Francisco, die bunte, homophile Stadt, die wesentlich dazu beitrug, Solnit zu ihrer ganz eigenen Stimme finden zu lassen. Auch über die Umgebung, über signifikante amerikanische Landstriche, aber vor allem über marginalisierte Gruppen, über Schwarze und Schwule, deren Kämpfe persönlich und strukturell bedeutsam waren für die Autorin. Die „Außenseiterin“ verbrachte den Großteil ihres Lebens in dieser Metropole und beklagt etwa, dass eine linke Buchhandlung dort zur Brillenboutique mutierte – eine ubiquitäre Entwicklung, vergleichbar mit der Tatsache, dass ein italienischer Bücherladen in München jetzt nicht mehr existiert, die Räumlichkeiten dafür aber einen Friseur beherbergen.
Das wichtigste Thema in Solnits neuem Buch jedoch ist die Gewalt gegen Frauen. Sie prangert victim blaming an und berichtet nicht nur aus persönlicher Betroffenheit von der Erfahrung, als junge Frau in einem Klima der Angst und stetigen Wachsamkeit aufzuwachsen. In diesem Kontext spricht Solnit auch über unsere misogyne Kultur, die sich seit jeher an jungen weiblichen Leichen delektiert. Man denkt sofort an Catherine Cléments Die Frau in der Oper, ein wunderbares, trauriges Buch, das nicht umsonst den Untertitel Besiegt, verraten und verkauft trägt. Man denkt auch an eine Vorstellung von La Traviata vor etlichen Jahren in Rom, als sich ein männlicher Zuschauer über die Sängerin der Titelpartie mokierte, als selbige die Phrase „Morire bella e giovane“ („Schön und jung sterben“) intonierte. Die kumulative Misogynie im Gewande der Hochkultur ist eine unendliche Melodie.
Solnit thematisiert außerdem die „üblichen“ Vergewaltigungs- und Morddrohungen gegen Feministinnen, die ihre Stimme erheben. Manche Frauen internalisieren zudem die Erotik der Unterdrückung, so Solnit. Korrekt, anders lässt sich der unfassbare Erfolg der Shades of Grey und vergleichbarer Machwerke nicht erklären.
Ähnliches gilt für die Integration männlicher Bewertungsraster in die weibliche Selbstwahrnehmung. Solnit weist darauf hin, dass nicht nur fat shaming ein Problem ist, sondern auch dessen Gegenteil. So wurde sie persönlich gemobbt, weil sie sehr schlank war.
Sexuelle Belästigung, schreibt die Autorin, ist in den seltensten Fällen ein freundliches Angebot attraktiver Menschen. Allerdings! Umso betrüblicher, dass dreimal von „Sexarbeit“ die Rede ist, diesem unerträglichen Euphemismus, der das Leid der überwältigenden Mehrheit prostituierter Frauen bagatellisiert.
Selbstzweifel und Zurückhaltung verhelfen den Tätern zu einem leichten Spiel. Logischerweise haben da Entwicklungen wie #MeToo Solnits vollen Support, wobei sie die Ambivalenz der sozialen Medien richtig darstellt, die ja einerseits solche Geschichten sammeln und verbreiten, andererseits aber auch bösartigster Hate Speech breiten Raum geben.
Lesen war für Solnit stets exorbitant wichtig. Es brachte ihr zwar ein, „an Orten zu leben, wo Frauen nur Dekoration, Trophäen oder Zuchtstuten waren“. Aber dies wiederum half ihr, auch gegen diese Missstände anzuschreiben. Sekundärliteratur spielt dabei nur eine geringe Rolle in dem vorliegenden Buch, was jedoch kaum ins Gewicht fällt, zumal Klassiker wie Andrea Dworkin durchaus erwähnt werden.
Besonders interessant ist auch, dass Solnit bereits vor langer Zeit als Verschwörungstheoretikerin abgetan wurde, eine Diffamierungsstrategie, die in Corona-Zeiten vor allem Leute trifft, die nicht die strenge Ideologie des RKI vertreten.
Zwei herausragende Zitate dürfen in einer Besprechung dieses Buchs nicht fehlen. So stellt die Autorin heraus, welch „radikale Schönheit darin liegt, sich der zugewiesenen Rolle zu verweigern“. Auch sie erlebte, was jede kinderfreie Frau wieder und wieder erleben muss: „übergriffige“ Fragen, warum sie keine Kinder hätte – was sie schlagfertig mit dem Hinweis auf ihre Heimatstadt beantwortet, wo es Leute gäbe, die „weniger konventionelle Vorstellungen davon hatten, wie ein Leben aussehen und welche Formen von Liebe es stützen können. Es war ein unglaubliches Geschenk“.
Ein Geschenk wie Solnits Buch. Virginia Woolf wäre stolz auf sie.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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