Wie traurig, dass mein Gastbeitrag für die Zeit aus dem Jahr 2021 noch immer so hochaktuell ist…
Als ich im Sommer 2019 in einer Regensburger Seniorenresidenz für mein neues Buchprojekt recherchierte, bat ich darum, zuerst mit den Bewohner*innen sprechen zu dürfen, die keine Kinder hatten. Tja, dann könne ich gleich zu Phase zwei übergehen, bekam ich zur Antwort, denn alle waren Mütter oder Väter…
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht nur, dass Menschen ohne Kinder, seien sie nun kinderfrei oder kinderlos, plötzlich einen beträchtlichen Zusatzbeitrag zur Pflegeversicherung zahlen müssen. Es erbost. Es entbehrt jeglicher Grundlage. Es spiegelt das geradezu perverse Breeder Pleasing eines Jens Spahn, den ich schon 2019 in Kinderfrei statt kinderlos kritisierte:
„Allein auf die Idee zu kommen, eine Minderheit zu zwingen, einen erheblichen Teil der Kosten für ein Projekt aufzubringen, das nicht ihres ist bzw. sogar völlig gegen deren innerste Überzeugungen geht, ist ausgesprochen bedenklich. Angeblich bräuchten die sozialen Sicherungssysteme Kinder. Nein. Der Kapitalismus und das momentane Wirtschaftssystem brauchen Kinder.“ (S. 34).
De facto ist die Erhöhung des Pflegeversicherungsbeitrags für alle Menschen ohne Kind ein Schlag ins Gesicht, ein Auswuchs der pronatalistischen Propaganda, die gerade in Deutschland schon mal seltsame Blüten getrieben hat (Mutterkreuzideologie!) und deren Erbe weiterlebt, beispielsweise ja auch im Kindergeld, welches von den Nazis eingeführt wurde.
Während progressive Länder die Beiträge pro Kind reduzieren, erhöhen sie sich in Deutschland immer noch – ökologisch fatal und extrem kurzsichtig! Noch dazu antifeministisch in allerhöchstem Maß, denn wer eine Frau zum Inkubator degradiert, der möglichst oft benutzt werden soll, um die ach so wertvolle deutsche Volksgemeinschaft zu erhalten, hat eigentlich nur noch in der AfD eine politische Heimat.
Aber nicht nur diese Partei ignoriert, was international bekannt ist. Nicht umsonst benannte das Intergovernmental Panel on Climate Change (Weltklimarat) ganz explizit die zwei Hauptgründe für die Klimakrise: Überbevölkerung und Überkonsum. Der schwedische Professor Frank Götmark arbeitet seit Jahren zu diesen Themen, findet aber hierzulande leider immer noch nicht das verdiente Gehör. Celebrate low birth rates ist ein Slogan, den man in Portugal oder den Niederlanden lesen kann, aber nicht in Deutschland, dabei gibt es Berechnungen, nach denen eine Bevölkerung von 38 Millionen ideal wäre, was unseren ökologischen Fußabdruck angeht…
Das Problem ist ein spezifisch deutsches, was man auch an Fridays For Future-Demonstrationen beobachten kann. Ein Schild mit der Aufschrift Make love, not CO2, war von deutschen Eltern an einem Kinderwagen angebracht worden – ohne jegliche (Selbst-)Ironie. In London hingegen las man: Make love, not babies. Yes! Warum weigern sich gerade die Deutschen, mit dieser Vergangenheit, so besonders hartnäckig, den Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum und Umweltzerstörung zu erkennen?
Also, Herr Spahn, warum sollen gerade jene so unbotmäßig abkassiert werden, die gerade dafür sorgen, dass es auf der Welt friedlicher zugeht, indem sie sich aus ethischer Verantwortung für den Planeten, für Tiere und Pflanzen einsetzen, und gerade nicht nur für die arroganteste aller Arten, den Menschen? Jene, welche die Pflegeversicherung offenbar nicht brauchen, da sich genau null von ihnen im Heim befanden; offenbar haben sie Kraft genug, selbstbestimmt zu leben und sich bis zuletzt um sich selbst zu kümmern. Offenbar sind Kinder kein Garant, nicht ins Heim abgeschoben zu werden. Wie uns aus der angloamerikanischen Wissenschaft – z.B. des britischen Glücksforschers Prof. Paul Dolan – bekannt ist, sind gerade kinderfreie Menschen nicht nur im Schnitt doppelt so glücklich wie Eltern, sondern auch mit einem größeren sozialen Netz gesegnet, was eben nicht zuletzt im Alter Vorteile bringt.
Aber die hoffnungslos weltfremde deutsche Politik fährt weiterhin volle Kraft voraus in den Abgrund – und das sollen die verantwortungsbewussten Kinderfreien ausbaden, die es schafften, ihren Narzissmus nicht qua Reproduktion auszuleben und ihr Kind in eine Hölle zu schicken, die außer Ressourcenknappheit, Ökosystemkollaps und Artensterben nicht mehr viel zu bieten hat. Die Schlussfolgerung des südafrikanischen Philosophieprofessors David Benatar drängt sich logisch auf: „There is a (moral) duty not to procreate.“ (Better Never To Have Been, S. 14).
P.S./Update vom 7.4.2023:
@Transphobe/Rechte: Frausein definiert sich sicher nicht übers Muttersein!!!