Kinderlos oder kinderfrei? Eine radikalfeministische Lektüre des Tösser Schwesternbuchs

„Schon zu ihrer Zeit waren die Mystiker, insbesondere aber die Mystikerinnen, auffällig und marginalisiert“[1] – genau wie im Jahr 2021 kinderfreie Frauen.

Tatsache ist, dass Frauen, die sich außerhalb des Normbereichs bewegen, egal, ob es sich um Nonnen, Prostituierte, glückliche Nicht-Mütter oder sonst irgendwie aus der Art gefallene handelt, in der Gegenwart nicht minder diskriminiert, stigmatisiert und pathologisiert werden als im Mittelalter.[2] Jegliches Reproduktionskonzept besteht zwar prinzipiell aus einem ganzen Bündel diskursiver, historischer und soziokultureller Parameter, dennoch staunt man nicht schlecht, wenn man 2019 ein Buch zum Thema Kinderfreiheit aus ökologischen, radikalfeministischen und philosophischen Gründen schreibt, nur um sich binnen kürzester Zeit auf dem medialen Scheiterhaufen wiederzufinden, kräftig befeuert durch Möchtegern-Gutmenschen aller Couleur (allen voran leider hochgradig affirmative Kolleg*innen aus diversen Bildungseinrichtungen). Scheinbar halten sich bestimmte Vorstellungen, was normkonformes weibliches[3] Verhalten angeht, über die Jahrhunderte besonders hartnäckig.

So widmet sich der vorliegende Beitrag dem Phänomen der Kinderfreiheit in der Gegenwart und im Mittelalter, konkret dem um 1340 entstandenen Tösser Schwesternbuch mit seinen 34 Viten. Inwiefern etwaige psychische Eigenheiten der Schwestern eventuell auch mit Kinderlosigkeit zu tun haben, wie in der Forschung bisweilen insinuiert wird, soll hier erhellt werden. Schließlich gab es im Spätmittelalter ebenso wie im Jahr 2021 Frauen, die sich nicht in althergebrachte Rollenkorsette pressen ließen, dies aber schlecht zugeben konnten und sich daher zum Teil in einen ausgeprägten Eskapismus flüchteten.

„Wenn man sich überhaupt darauf einläßt (sic!), heutige klinisch-pathologische Kategorien zur Beschreibung historischer Phänomene einzusetzen, muß (sic!) betont werden, daß (sic!) mittelalterliche Mystiker den Borderline-Persönlichkeiten erheblich näherstehen als den Hysterikern.“[4] Als dritte mögliche Diagnose nennt FRENKEN die Dissoziative Persönlichkeitsstörung, die man stellen könnte, wenn man über Mystiker – oder mehrheitlich ja gerade eben: Mystikerinnen – des Mittelalters schreibt.

N.B. Eine dissoziative Persönlichkeit weisen auch ca. 90 Prozent aller heute prostituierten Frauen auf…[5]

Wenn man mit Walter BENJAMIN der Ansicht ist, dass Historiker*innen stets die Konstellation erfassen, in die ihre eigene Epoche mit einer bestimmten früheren getreten ist, ist ein derartiger Ansatz nicht ohne Legitimität[6].

Zu fragen ist aber nun m. E. gerade nicht, inwieweit man einzelne der präsentierten Schwestern als psychisch gestört, sondern vielmehr als Feministinnen avant la lettre klassifizieren kann.

„Selten wird die Kombination von völlig unzureichenden mütterlichen Fähigkeiten und den gleichzeitigen Wünschen nach Versorgung durch himmlische Ersatzobjekte prägnanter formuliert als von Adelhait.“[7]  Hier ist sie wieder einmal und immer noch, die misogyne Brille der heutigen Forscher, die viele partout nicht abnehmen wollen. Und die ist klar vorhanden, wenn man pauschal allen Mystikerinnen traumatische Kindheitserinnerungen andichtet. Libidinöse und aggressive Emotionen hätten sich bei diesen angestaut, Ängste müssten reduziert werden und somit würden aus phantasierten Kindern „Objekte der Äußerung und Befriedigung von Wünschen nach Versorgung (Umkehr-Reaktion) und auch von körperlich-sexuellen Bedürfnissen (Pädophilie).“[8] Dazu passt, dass es seiner Ansicht nach in den (Auto-)Biographien „Hinweise auf infantizide Impulse der Eltern, aber auch der Mystiker selbst“[9] gebe.

Auch der Kunsthistoriker Bernd SCHMIDT[10] stößt mit Verve in eben dieses Horn: die mittelalterlichen Mystikerinnen sind für ihn psychisch kranke Frauen, deren Leiden (Askesepraktiken etc.) und Leben keinen Sinn hatte. Er gießt ätzendes Pseudo-Mitleid über ihnen aus, genau wie die Männer, welche die im Jahr 2021 lebenden kinderfreien Frauen ,bemitleiden‛.

Von etlichen männlichen Forschern wird auch wild spekuliert, welche Nonne als eigentlich abstinente Jungfrau in ihrer ach so reizarmen Umwelt überhaupt jemals einen Orgasmus erlebt oder masturbiert hat – und das hat schon einen extrem unangenehmen Beigeschmack, den man nicht durch psychohistorisches Interesse eskamotieren kann. Dieser Forschung ist eine ausgeprägte machistisch-voyeuristische Tendenz eigen.

Zum Glück gibt es auch andere Stimmen, die sogar explizit davor warnen, diverse Sachverhalte „durch einen Hinweis auf eine präsumptiv sanftere Vorstellungswelt der Frauen zu entkräften, die ja im Spätmittelalter nahezu alle „Visionäre“ stellen: die „paupercula mulier“ etwa erzählt, wie einem Sünder geschmolzenes Gold in den Mund gegossen wird“[11]. Andererseits enttäuscht auch Peter DINZELBACHER immer wieder profund, wenn er von der angeblich masochistischen Sexualität der Passionsmystikerinnen spricht oder ebenfalls zugrunde liegende psychische Erkrankungen vermutet. Gerade er reitet nicht konstant die hohen Wellen der Misogynie, sondern erkennt sehr wohl auch emanzipatorisches Potenzial, das den Visionärinnen eignet, was im Verlauf dieses Aufsatzes noch an konkreten Beispielen veranschaulicht wird.

Elsbeth Stagel selbst wird in der Vorrede als spiegel aller tugenden[12] bezeichnet, die auch die entsprechenden kognitiven Fähigkeiten mitbringt, die eine totale Ausrichtung auf hohe geistliche Dinge erlauben. Weltliche, süntliche üppige sachen, do mit sich manger mentsch saumet seiner ewigen selikeit[13] interessieren sie nicht, da sie einzig und allein nach einem vollkommenen Leben strebt – und das beinhaltet nun mal keine eigenen, leiblichen Kinder, sondern die Fokussierung auf den Herrn im Himmel.

Ganz explizit wendet sie sich an Heinrich Seuse, der sie in anspruchsvollen theologischen Fragestellungen unterweisen soll. Wörtlich bittet Elsbeth ihn, sich von ihrer krancken, zartten, frwlichen natur[14] nicht beeinflussen zu lassen. Hierin lässt sich ein dezidiert ,feministischer‛ Impetus konstatieren und zwar gerade nicht im Sinne des Differenzfeminismus; Elsbeth möchte nicht anders behandelt werden als die Männer. Es ist der Kampf gegen ,antifeministische‛ Klischees, den Frauen im Spätmittelalter ebenso führen müssen wie Studentinnen an amerikanischen Universitäten im 21. Jahrhundert…

Elsbeth betont in ihrer Vorrede, dass Armut, Gehorsam und Reinheit wichtige Tugenden sind, zentrale Komponenten der Ausrichtung auf himmlische Dinge. Estote perfecti ist denn auch der Wahlspruch der Dominikanerinnen, über die sie in ihrem Werk berichtet. Dieses Wort wird in iren hertzen fruchtber[15] – dass so ein hoher Anspruch über dem profanen Ziel eines fruchtbaren Schoßes steht, ist klar. Aber nicht nur in Bezug auf Elsbeth selber lassen sich progressive Tendenzen klar erkennen, auch etliche Mitschwestern weisen mitunter solche Züge auf.

Ita von Sulz, einer Witwe, wird beispielsweise vom Eintritt ins Kloster abgeraten, aber sie setzt diesen Wunsch gegen allerlei Widerstände durch. Ihr erscheint eines Tages auch der Herr als Kind (darauf wird gleich noch Bezug genommen).

Gott als Kind ist ein Bild, das viele Schwestern beschäftigt. Die Frage ist, ob man ihnen deswegen eine psychische Störung attestieren muss, wie eben beispielsweise FRENKEN dies tut, der ihnen allerlei Erkrankungen andichtet. Dass man ein kleines Kind auch ohne jegliche pädophile Neigung auf die glatte Wange küssen kann, ist vielleicht nicht allen klar…

Die Mystik ist eine Option für diejenigen, die eine Art innerer Emigration einem gewöhnlichen Dasein vorziehen. Das Versinken im eigenen Selbst, in der Beziehung zu Gott, kann weitaus erfüllender sein als traditionelle, biologistisch determinierte weibliche Lebensentwürfe. DINZELBACHER spricht explizit von einem „Sehnen nach Selbstverwirklichung“[16] – und das ist schließlich genau der Aspekt, der noch bei den kinderfreien Frauen des 21. Jahrhunderts ganz oben rangiert, wenn es darum geht, warum man sich gegen eigene Kinder entscheidet.

Auch im Jahr 2003 wird noch eine antifeministische Interpretation veröffentlicht, und zwar von Robert Heinrich Oehninger. Auf S. 19 schreibt er im ersten Band seines Werks, dass „Selbstwerdung und Gleichberechtigung“ den Schwestern nicht „unterstellt“ werden dürfen, zumal das doch heutige Begriffe wären. Auf S. 187 aber unterläuft ihm dies gleich doppelt: es wird spekuliert, ob die strenge Zuchtmeisterin, die Adelhaits Kind schlägt, der Mutter nicht gönnt, dass „sie als Ehefrau Liebe erlebt hatte“. Und unten auf dieser Seite behauptet er nonchalant: „Es wäre zu viel gesagt, die Dominikanerinnen zu Töss seien untereinander ein Herz und eine Seele gewesen.“ Diese Methodik ist also plötzlich doch legitim, wenn es darum geht, die Nonnen zu diskreditieren, wenn es um eine positive Darstellung ginge, natürlich nicht… (Aber was will man erwarten von einem Autor, der auf der allerersten Seite seiner Frau Gemahlin dafür Dank sagt, dass sie sich als Sekretärin und Hausfrau benutzen lässt.)

Es wird in der Forschung hin und wieder auch darauf hingewiesen, dass die Schwestern eine erstaunliche Anfälligkeit charakterisiere. Kein Wunder, so der Tenor, da diese verschrobenen Frauen ihren Körper auch ganz gezielt schwächen und quälen. Vorgeblich, um Seine Leiden nachzuempfinden, de facto aber, so die Herren Psychohistoriker, um sich halluzinatorische Zustände abzuringen, die ihrer verqueren Sexualität entgegenkommen.

Offenbar ist es für etliche neuzeitliche Gemüter tatsächlich einfach nicht mehr nachvollziehbar, sich selbst in Askese zu üben, um sich nicht nur in sich selbst zu versenken und zu finden, sondern Gott zu begegnen. Deswegen aber die Schwestern abzuwerten und die Lauterkeit ihrer Motive anzuzweifeln, ist schon grotesk.

Dass Er das beste Objekt für minnende Gefühle ist, da man so nicht Leid und Kummer erntet, sondern große, beständige Freude, manifestiert sich in dem Lied, das Schwester Mezzi Sidwibrin gerne singt. Der himmlische Bräutigam enttäuscht einen eben einfach nie… Es geht um eine Extremform der Liebe, um eine ungeheure Leidenschaft, um die Unwiderstehlichkeit der Liebe, die qua definitionem alles und alle anderen in ihrer Bedeutung reduziert.

Eine auf ein männliches Objekt gerichtete Liebe kann von so unerhörter Kraft sein, dass der Gedanke an Mutterschaft schlichtweg keine Rolle spielt. Kommen Tristan und Isolde (um das bekannteste Liebespaar aus dem Höfischen Roman zu nehmen, das auch außerhalb der Mediävistik bekannt ist) je Kinder in den Sinn? Natürlich nicht, sie sind kinderwunschlos glücklich, da „die Liebe alles absorbiert.“[17] Und wenn man den grandiosesten aller Männer liebt, der über allen anderen steht, kann man da an irgendetwas oder jemand anderen auch nur denken? Eine solche Liebe bedarf nicht eines ,sichtbaren Beweises/Resultats‛, das würde sie vielmehr degradieren. Eine solche Liebe steht absolut und ist sich prinzipiell selbst genug – und das immerfort.

Nicht zuletzt eine sich ausdifferenzierende Stadtkultur fördert natürlich ebenfalls nicht unwesentlich das Selbstbewusstsein der Frauen, gerade derjenigen, die qua Disposition ohnehin nicht zum Gehorsam neigen, wie die bereits erwähnte Schwester Elsbet Schefflin, die ihre Entscheidung für das Kloster gegen erhebliche Widerstände ihrer Familie verteidigen muss. Eine Vereinigung mit Gott in der Seele ist für eine Frau wie Elsbet logischerweise erstrebenswerter und reizvoller als die Mühen profaner Mutterschaft.

Auch Hartmanns von Aue Laudine und Hadlaubs Dame (im Lied II) stehen unter immensem Druck und sollen einen Liebhaber akzeptieren, den sie sich wahrlich nicht selbst ausgesucht haben. Während sich Laudine letztendlich unterwirft, mutiert Hadlaubs Heroine zu „einer ‘gescheiterten’ vagina dentata.“[18]

Den Schwestern den Sinn ihrer Lebensform abzusprechen, mittels dieser Texte gar vor modernen Askeseformen zu warnen, wie dies leider immer wieder geschieht, ist eine wissenschaftliche Unart, der man entschieden entgegentreten muss, wenn man Misogynie und Sexismus nicht nur im Alltag, sondern auch innerhalb von Forschung und Lehre bekämpfen will. Sie erinnert an Diskriminierungen, von denen heutige Dominikanerinnen, die beispielsweise im Habit Bus fahren, berichten. Und an jene, denen allgemein Frauen ohne Kinder oder andere (weibliche) Minoritäten 2021 im Rahmen des gesamtgesellschaftlichen Backlashs wieder vermehrt ausgesetzt sind.

Eine dezidiert feministische Perspektive erachtet Gertrud Jaron Lewis für unabdinglich, wenn man ins Zentrum der Schwesternbücher vordringen möchte. Wie ich ist sie der Ansicht, dass „these works have been the object of scholarly prejudice and misinterpretation.“[19] Auch sie nennt als einen der Gründe, warum sich die Frauen für ein Leben im Kloster entscheiden, explizit „a way of refusing to accept the forms of life traditionally available to them.“[20] In ihrem eminent wichtigen Werk werden zahlreiche interpretatorische Sünden des 20. Jahrhunderts aufgelistet.

Schwester Ofmya von Múnchwil ist so ernsthaft im Gebet, dass sie ihre eigene Mutter, die sie nicht oft im Kloster besucht, warten lässt. Dennoch, wiederum – muss man deshalb dieser Nonne unterstellen, sie hätte ein gestörtes Verhältnis zu den eigenen Eltern, käme aus einer dysfunktionalen Familie? Auch das ist eine Parallele zum Jahr 2021, ebenso wie der fast schon klassische Vorwurf, Nicht-Mütter würden einfach eine Aversion gegenüber Kindern verspüren (weil sie monströse ,Nicht-Frauen‛ sind, sonst wären ihre ,biologischen Instinkte‛ ja intakt…). Schwester Margret Finkin aber unterweist mit Feuereifer Kinder in Latein und Schwester Margret von Zúrich sieht, während sie andächtig weint, den Herrn in Gestalt eines Kindes, was sie ganz enorm tröstet. Damals wie heute sind Frauen ohne Kinder meistens durchaus den Leuten im zarten Alter sogar sehr zugetan und es wäre sogar zu prüfen, inwieweit so manche Geisteshaltung einer Schwester der philosophischen Richtung des Antinatalismus zugeordnet werden könnte, da dieses Konzept schon vor Christi Geburt in unterschiedlichen Texten festgehalten wurde und belesenen Schwestern durchaus bekannt gewesen sein könnte.

Über Schwester Anna von Klingenow lesen wir, dass sie Müßiggang und die Beschäftigung mit vergänglichen Dingen stets hasste. Andechtig und emssig gebett, lesen und latin lernen und wie sy den orden andchteklich behielt: hie mitt bekumret sy sich flissklich.[21]

Das ist doch eine wunderbare Art, seine Existenz sinnvoll und erfüllt zuzubringen… Aber damals wie heute gibt es eben leider Männer, die sich anmaßen, über den Wert eines weiblichen Lebens überhaupt zu urteilen und dann auch noch unter Zuhilfenahme absolut haarsträubender Kategorien, wie das Erfüllen des wirkmächtigsten patriarchalen Imperativs – der Reproduktion.

Schwester Mezzi von Klingenberg erblickt ein wunnekliches kindli[22]; so ergeht es auch einer namenlosen, heimatlosen Schwester, die sich durch den Anblick eines Neugeborenen wundersam getröstet fühlt.[23] Solche Fälle häufen sich. Mag sein, dass die Schwestern, die just derartige Visionen erleben, in besonders hohem Maß ihre Kinderlosigkeit zu kompensieren versuchen. Mag sein, dass sie mehr als so manche Mitschwester ihre Sexualität zu verdrängen, zu kanalisieren, zu ,legalisieren‛ suchen. Allerdings hat längst nicht jede Bewohnerin des Klosters Töss solche Gesichte – könnte es sich in diesem Fall um die nicht unerhebliche Gruppe genuin kinderfreier Frauen handeln? Immerhin ist es auch in der Gegenwart so: da gibt es die große Gruppe heterosexueller Frauen, die eine Partnerschaft führen, um einen Vater für ihr Kind zu haben, die kleinere hingegen richtet ihr Sinnen und Trachten auf eine gleichberechtigte(re) Beziehung, die oftmals kinderfrei gestaltet wird.[24]

Ziehen wir eine jeweils kleine Gruppe homosexuell inklinierter oder genuin asexueller Frauen ab, bleibt in etwa eben dieses Verhältnis, das auch im Tösser Schwesternbuch vorliegt, nur invers: eine kleinere Fraktion sieht in ihren Visionen den Herrn als Kind, die größere nicht. Natürlich geht es bei den Schwestern nicht um (aus)gelebte, sondern um imaginierte oder – wenn man denn unbedingt möchte – kanalisierte Sexualität. Und natürlich hat man mit Gott niemals eine gleichberechtigte Beziehung… Der Fokus liegt eher auf der unterschiedlichen Priorisierung, die durch die jeweiligen Schwestern vorgenommen wird; steht der Mann im Vordergrund oder das Kind?

Bei Màchthilt von Stanz ganz klar der Mann: O her min got, nun han ich durch din liebe gelassen alle dise welt und alles das mir ze lieb und ze trost mchte kumen[25]. Und in der Tat, sie wird dafür belohnt, keinen anderen Beistand zu wollen als den seinigen. Er selbst erscheint ihr eines Nachts und teilt ihr mit, dass er allein ihr Tröster sein werde.

Adelhait von Frowenberg als eine der wenigen Mütter in Töss ist nichtsdestotrotz ein interessanter Fall, der kurz Erwähnung finden muss. Sie ist von nobler Abkunft und wird standesgemäß verheiratet, aber ihr größter Wunsch ist es, von dieser Welt loszukommen. Nachdem ihr Gemahl gestorben ist, drängen ihre Leute Adelhait zu einer Wiedervermählung. Die Verwandten liegen ihr unablässig in den Ohren, der Kandidat selbst wirkt angenehm, aber Adelhait schafft es, sich richtig zu entscheiden. Im Kloster kümmert sie sich wenig um ihr eigenes Kind. Sehr sehnsüchtig aber ist sie in Bezug auf das himmlische Kind. Sechs Wochen vor ihrem Tod erfüllt sich einer ihrer innigsten Wünsche und sie bekommt etwas Milch von der Brust, die das heilige Kind gestillt hat. Explizit verrät sie einer Mitschwester, dass dies die Belohnung war für die besondere Liebe, die sie dem Herrn als Kind entgegenbrachte. Mir ist alle die welt in minem hertzen als ain mist, und ssse min ainiger sun for mir, den ich gar lieb hat, und alle die frúnd die ich ie gewan, ich kerte min og dar, das ich sy sch.[26]

Offenbar ist Kind auch nicht gleich Kind… Das frappiert allerdings nur mäßig, da das himmlische Kind sozusagen qua Dienstpflicht von jeder Schwester privilegiert werden muss.

Diese Aussage bringt Adelhait das zu Beginn bereits zitierte Verdikt FRENKENS ein, der sie als Rabenmutter abqualifiziert, als unfähige Mutter hinstellt, die in ihrer Unreife lieber selbst bemuttert werden möchte (in diesem Fall durch das phantasierte himmlische Kind). Womöglich gab es Vorläuferinnen von Regretting Motherhood schon im Spätmittelalter… Wie im Jahr 2021 sieht man im Falle Adelhaits, dass Zwangsmutterschaft eben nicht glücklich macht, nur dass im 14. Jahrhundert klarer ist, worin der Zwang besteht, da sie ja verheiratet und zur Mutter gemacht wird, ohne selbst darauf wirklichen Einfluss nehmen zu können.

Ihr emanzipatorisches Streben schlägt erfolgreich erst durch, als sie sich einer weiteren Eheschließung widersetzt. Adelhait möchte keinen weiteren irdischen Mann, kein weiteres reales Kind, sie möchte sich vielmehr höheren Aufgaben weihen, woran sie sich auch durch den Ballast nicht hindern lassen will, der ihr in der Phase vor dem Klosterleben zuteil wurde. Insofern ist gerade diese Schwester eine sehr progressive Figur, deren Funktion durchaus darin bestehen könnte, anderen (unglücklichen) Müttern zu signalisieren, dass es noch nicht zu spät ist, dass eine Neujustierung des inneren Kompasses immer noch möglich ist.

Und genau das müsste von einem Forscher der Gegenwart gewürdigt werden! Es geht nicht an, die Figur der Adelhait zu diffamieren, um persönliche Befindlichkeiten gegenüber ,schlechten‛ Müttern zu verbalisieren. Das ist eine typisch anti-feministische, patriarchal-herablassende Sichtweise, die in der modernen Sekundärliteratur nichts mehr verloren hat.

Ebenso wenig wie der gesamte Ansatz, praktisch alle Mystikerinnen, von denen die überwältigende Mehrheit keine Kinder hat, zu desavouieren. Eine derartige Negativinterpretation und despektierliche Bewertung wie sie sich bei FRENKEN findet, kann man so keinesfalls stehen lassen. Es ist desaströs genug, dass es 2021 Männer gibt, für die ,gute‛ Frauen nur Mütter sind, und zwar wiederum nur die ,guten‛, aber dass diese Perspektive nonchalant auf mediävistische Forschungsobjekte ausgedehnt wird, ist ein weiteres inakzeptables Skandalon. Solche Herren bemitleiden für gewöhnlich wenigstens die ach so armen kinderlosen Frauen (daher sind ihnen die kinderfreien auch gar so ein Dorn im Auge), aber nicht mal davon eine Spur.

Elli von Ellgù, auch Laienschwester, kommt mit 14 ins Kloster, wo sie 50 Jahre lebt und arbeitet. Bei der Betrachtung der Tösser Schwestern manifestiert sich deutlich ein Zusammenhang zwischen Kinderlosigkeit und Langlebigkeit.

Wenn man die durchschnittliche Lebenserwartung mittelalterlicher Frauen erinnert, fällt auf, wie oft vom hohen Alter der Schwestern die Rede ist. Über 70 Jahre alt zu werden, ist im Kloster Töss offenbar keine Besonderheit. Die Geißelungen und Kasteiungen können sich also entgegen der Aussagen diverser Psychohistoriker nicht dermaßen negativ ausgewirkt haben. Wenn sie dann letztendlich in oft ungewöhnlich hohem Alter auf ihrem Sterbebett liegen, wandelt die Schwestern keinerlei Reue an. Sie lebten nach seinem Gebot und erwarten freudig das Eingehen ins himmlische Reich, das eben für die Tösser Nonnen anders als für Beethovens Florestan nicht die Freiheit ist, sondern das Verschmelzen mit Ihm.

Elisabet Bechlin erzählt im reifen Alter von 73 Jahren, dass sie den Herrn als Kind gesehen hatte und küssen durfte. Auch ein zweites Mal, als ihr die Mutter Gottes erscheint, fragt sie sie nach ihrem Kind. Diese erfüllt ihren Wunsch und dis was ain als mineklicher anblik, und aber sunderlich so was im die kel under dem kinn als zart und als mineklich.[27]

Diese Formulierung könnte in der Tat so ausgelegt werden, dass sie auf einen gewissen unerfüllten Kinderwunsch hindeutet. Wie auch schon bezüglich moderner Frauen jedoch konstatiert wurde, ist es aber durchaus möglich, Babys und Kleinkinder reizend zu finden – und dennoch selbst keines (bekommen) zu wollen… Zudem ja noch dazu ein eklatanter Unterschied besteht zwischen einem x-beliebigen Kind und dem himmlischen Kind. Es ist außerdem eine Sache, kurzfristig die Vision eines Kindes aufblitzen zu sehen, aber eine ganz andere, ein Kind aus Fleisch und Blut permanent um sich zu haben. Für Letzteres wäre im Leben der Tösser Schwestern schlichtweg kein Platz.

Elsbeth Stagel verdanken wir eine narrative Auseinandersetzung mit mystischen Erlebnissen von Frauen, deren Biographie nicht der Norm entspricht, womit eine doppelte ,feministische‛ Stoßrichtung festgestellt werden kann.

Erstens handelt es sich um einen der wichtigsten Belege weiblicher Schreibkultur, die in ihren volkssprachlichen Anfängen naturgemäß im klösterlichen Umfeld zu finden ist, wo sich überdurchschnittlich viele gebildete Frauen sammelten. Zweitens ist der Gegenstand gerade des Tösser Schwesternbuchs das gottgefällige Leben, das auf die Verschmelzung mit ihm zielt – und nicht auf banal Irdisches. Eine der notwendigen Voraussetzungen dafür, dass so etwas überhaupt allererst möglich wird, ist die zum Teil ganz vehemente Abwehr der Normbiographie, die so mancher Schwester von ihren Verwandten oktroyiert zu werden droht.

Resümierend kann man konstatieren, dass Kinderlosigkeit im Tösser Schwesternbuch eher eine implizite Rolle spielt. Nicht alle Schwestern sind Nicht-Mütter. Manche erblicken wiederholt das göttliche Kind, was unter Umständen ein verdrängtes Bewusstsein ihrer Kinderlosigkeit symbolisiert, wiederum einige andere lassen durchaus ,radikalfeministisches Potenzial‛ erkennen, da sie in ihrem Streben nach Ihm in keinster Weise abgelenkt werden wollen, weder durch reale Kinder noch durch Seine frühere Erscheinungsstufe.

Keinesfalls allerdings ist es akzeptabel, psychische Störungen bei den Schwestern zu diagnostizieren, wie es leider immer wieder in der Forschung geschieht. Schließlich ist es ein klassisch misogyner Topos, Feministinnen – avant la lettre oder neuzeitlichen – psychische Probleme anzudichten, um ihre Äußerungen, Aktionen und Überzeugungen von Beginn an abzuqualifizieren und rangiert nur knapp über der niveaulosen Diffamierung z. B. ihres Äußeren, um durch infame Ridikülisierung davon abzulenken, dass die Inhalte von sachlich unbestreitbar hoher Relevanz sind.

Das Image der Nonne als graue Maus ist im Volk nach wie vor weit verbreitet. Könnte das auch damit zusammenhängen, dass „Generationen von Historikern entgangen [war], mit welch stolzem Gefühl des Auserwähltseins junge Mädchen zur Ausbildung in den Klöstern antraten. […] Unbeherrschte Ehemänner waren oft so gewalttätig, dass sie ihre Frauen im Zuge ehelicher Züchtigungen schon mal totprügelten, ohne dafür belangt zu werden. Auch die Ausübung eines Berufes ihrer Wahl war Frauen kaum möglich. Im Kloster hingegen erwartete die Mädchen eine Ausbildung“[28]. Dass für kinderfreie Frauen avant la lettre diese Option besonders verlockend war, liegt auf der Hand. „The women portrayed in these texts were intelligent, well-educated, dedicated to their monastic ideal, and are shown living a life of integrity and of a remarkable inner independence.“[29]

Es geht mithin um nichts weniger als die Ehrenrettung kinderloser und vor allem kinderfreier Frauen, ihrer Schriften sowie der Texte über sie – handle es sich nun um Dominikanerinnen des 14. oder um Aktivistinnen des 21. Jahrhunderts.

Dass dies wunderbar zusammen geht, zeigt uns, wie eingangs bereits angedeutet, Walter BENJAMIN, der ja die Vergegenwärtigung der Vergangenheit als interessegeleiteten Akt begreift. Die Gegenwartsperspektive der interpretierenden Person spielt stets eine Rolle.

Literatur

  • Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. 1970 ff.
  • Walter Blank: Die Nonnenviten des 14. Jahrhunderts. Eine hagiographische Studie zur Literatur des Mittelalters unter besonderer Berücksichtigung der Visionen und ihrer Lichtphänomene. 1962.
  • Verena Brunschweiger: Kinderfrei statt kinderlos. Ein Manifest. 2019.
  • : Die Childfree-Rebellion. Warum „zu radikal“ gerade radikal genug ist. 2020.
  • Susanne Bürkle: Literatur im Kloster. Historische Funktion und rhetorische Legitimation frauenmystischer Texte des 14. Jahrhunderts (= Bibliotheca Germanica 38). 1999.
  • Peter Dinzelbacher: Die Gottesgeburt in der Seele und im Körper. In: Thomas Kornbichler/Wolfgang Maaz (Hg.): Variationen der Liebe: historische Psychologie der Geschlechterbeziehungen. Edition diskord. (Forum Psychohistorie, Bd. 4). 1995. S. 94-128.
  • : Die Psychohistorie der Unio mystica. 2001.
  • : Vision und Visionsliteratur im Mittelalter. (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, Bd. 23). 1981.
  • Franziska Dzugan: Nonnen. Warum entscheiden sich junge Frauen für das Kloster? 2014.
  • Melissa Farley: Prostitution and Trafficking in Nine Countries. In: Journal of Trauma Practice, Vol. 2, 2004. S. 33-74.
  • Ralph Frenken: Kindheit und Mystik im Mittelalter. (Beihefte zur Mediaevistik, Bd. 2). 2002.
  • Herbert Grundmann: Religiöse Bewegungen im Mittelalter. 1977.
  • Gertrud Jaron Lewis: By Women for Women about Women. The Sister-Books of Fourteenth-Century Germany. 1996.
  • Robert Heinrich Oehninger: Wir hatten eine selige Schwester. Zürich 2003.
  • Ursula Peters: Religiöse Erfahrung als literarisches Faktum. Zur Vorgeschichte und Genese frauenmystischer Texte des 13. und 14. Jahrhunderts (= Hermaea NF 56), 1988.
  • Siegfried Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur in Frauenklöstern des Mittelalters. 1980.
  • Kurt Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik. 1990-1996.
  • Bernd Schmidt: Mittelalterliche, religiöse Kunst heute. 2009.
  • Frank Thadeusz: Im Ofen der Liebe. Der Spiegel Nr. 2, 4.1.2020. S. 106/107.
  • Regina Toepfer: Kinderlosigkeit. Ersehnte, verweigerte und bereute Elternschaft im Mittelalter. 2020.
  • Ferdinand Vetter (Hg.): Das Leben der Schwestern zu Töß, beschrieben von Elsbeth Stagel (Deutsche Texte des Mittelalters 6). 1906.
  • Annette Volfing: Hadlaubs beißende Dame. Minnesang und vagina dentata. In: Sarah Bowden/Nine Miedema/Stephen Mossman (Hg.): Verletzungen und Unversehrtheit in der deutschen Literatur des Mittelalters. (XXIV. Anglo-German Colloquium Saarbrücken 2015). 2020. S. 261-277.

[1] Herbert Grundmann: Religiöse Bewegungen im Mittelalter. S. 330.

[2] Vgl. Verena Brunschweiger: Kinderfrei statt kinderlos.

[3] Gesetzt den Fall, wir wollen uns hier auf die binäre Matrix verständigen.

[4] Ralph Frenken: Kindheit und Mystik im Mittelalter. S. 318.

[5] Vgl. Melissa Farley: Prostitution and Trafficking in Nine Countries.

[6] Vgl. Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Berlin 1970 ff.

[7] Frenken, S. 299.

[8] Frenken, S. 326.

[9] Ebd. S. 329.

[10] Vgl. Bernd Schmidt: Mittelalterliche, religiöse Kunst.

[11] Peter Dinzelbacher: Vision und Visionsliteratur im Mittelalter. S. 120.

[12] Ferdinand Vetter (Hg.): Das Leben der Schwestern zu Töß, beschrieben von Elsbeth Stagel. Vorrede Johannes Meiers.

[13] Ebd.

[14] Ebd.

[15] Vetter (Anm. 18). Vorrede Elsbet Stagels.

[16] Vgl. Dinzelbacher (Anm. 6), S. 234.

[17] Vgl. Regina Toepfer: Kinderlosigkeit. S. 364.

[18] Annette Volfing: Hadlaubs beißende Dame. S. 271.

[19] Lewis (Anm. 25), S. xi.

[20] Lewis (Anm. 25), S. 3.

[21] Vetter (Anm. 18), XI.

[22] Vetter (Anm. 18), XVII.

[23] Vgl. Vetter (Anm. 18), XIX.

[24] Vgl. Verena Brunschweiger: Die Childfree-Rebellion.

[25] Vetter (Anm. 18), XXIV.

[26] Vetter (Anm. 18), XXII.

[27] Vetter (Anm. 18), XXXII.

[28] Frank Thadeusz: Im Ofen der Liebe. S. 107.

[29] Lewis (Anm. 25), S. 285.