Günther Bärnthaler stellt mit „Fragen an Hagen: Wege zum ‚Nibelungenlied‘ für jugendliche Schülerinnen und Schüler“ ein neuartiges mediävistisches Unterrichtsprojekt vor

Von Verena BrunschweigerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Verena Brunschweiger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vielversprechend beginnt Günther Bärnthalers umfangreiches Werk. Drei Zitate rücken bereits Phänomene in den Fokus, die jede*r kennt, die/der sich schon einmal mit dem Nibelungenlied beschäftigt hat in der Absicht, es Lernenden nahezubringen: Zwei Schülerinnen äußern sich über den Text – eine positiv, die andere negativ, und der Schriftsteller Helmut Krausser exkulpiert all jene, die ebenfalls der Ansicht sind, man dürfe oder solle sich trotz der Kontamination durch die Nazis immer noch mit dieser Dichtung auseinandersetzen.

Als Beamtin/Beamter ‚darf‘ man an sich recht wenig, insofern erübrigt sich die Frage, ob man sich mit bestimmten Kulturgütern beschäftigen möchte oder nicht – persönliche Befindlichkeiten werden dabei abgetan, egal ob man Gewährsleute wie Susan Sontag anführen kann oder nicht, welche völlig zurecht die Verwandlung der Individuen in eine gesichtslose Masse als eins der zentralen Charakteristika faschistischer Ästhetik bezeichnet.

Bärnthaler deckt in Fragen an Hagen etliche interessante Aspekte zu diesem Thema ab, die man in der Tat auch mit erwachseneren Lernenden besprechen könnte. Es geht um Umberto Ecos Ur-Faschismus, „der Heroismus zur Norm erhebe und im Tod die ersehnte Belohnung für ein heroisches Leben sehe“. Die nationalistische Rezeption der Nibelungen wird vor allem unter Berücksichtigung ikonografischer Zeugnisse beleuchtet. Siegfried im Nibelungenlied jedoch ist „höfischer Modellritter und gleichzeitig archaischer Held der Anderswelt“ und besticht durch Mut, Kraft, kämpferische Fähigkeiten – und durch Schönheit. Noch heute enthusiasmiert ein großer, blonder, blauäugiger Rúrik Gíslason Fans, Jury und Kolleg*innen bei Let’s Dance eben nicht nur aufgrund seiner tänzerischen Leistungen.

Es gibt in Bärnthalers Buch ein Vorwort, aber kein Nachwort. Die Ausführungen enden daher sehr abrupt, es folgen Diagramme, Tabellen und Literaturangaben. Der stets gleiche Aufbau des Hauptteils ermüdet nach ein paar hundert Seiten dann doch: Der Inhalt einer Aventiure wird jeweils enorm ausführlich wiedergegeben; es folgen die Lernziele, die jedes Mal vor allem aus „[B]eschreiben, [A]nalysieren und [I]nterpretieren“ bestehen. Im Anschluss finden sich Aufgabenstellung und Hypothese, die Materialien und abschließend ein mediävistischer Kommentar.

Jede Figur wird unter Berücksichtigung bestimmter Kriterien abgeklopft, wobei deren Auswahl oder zumindest Gewichtung bisweilen seltsam anmutet, so zum Beispiel „3.1 Wer ist Kriemhild?“ und „3.1.1 Thema Mutter und Kind“. Abgesehen von der Figurenanalyse werden nur zwei weitere Punkte genannt: die Nibelungen als ‚Barbaren‘ sowie die Hyperbolik, welche die Dichtung auszeichnet. Dies steht im Widerspruch zur Alterität, die zuvor noch explizit betont wird. Allgemeine didaktische Grundsätze werden breit ausgeführt, wobei die Wichtigkeit subjektiver Bedeutsamkeit von Lerninhalten aller Art bereits hinlänglich bekannt ist – auch und gerade in Bezug auf das Nibelungenlied.

Zuerst lässt Bärnthaler seine 21 Schüler*innen Fragen an die Figuren formulieren und konstatiert: „Ihre Involviertheit mit Figuren, die im NL vorkommen, hängt anscheinend kaum von der Übereinstimmung mit deren Geschlecht ab, jene der Schüler hingegen deutlich.“ Einen Kommentar zu diesem Befund hätte man schon erwarten können, zumal durchaus immer wieder betont wird, dass gerade die Tatsache, dass wir es mit einem kanonischen Werk zu tun haben, für manche Schüler*innen einen gewissen Motivationsgehalt hat. Gerade die Mädchen sind es eben gewohnt, sich mit den männlichen Protagonisten kanonischer Lektüren auseinanderzusetzen. Implizit ist der unmarkierte Mensch immer noch ein Mann.

Etliche qualitative Einzelinterviews sind vollständig abgedruckt. Die Jugendlichen arbeiten zumeist in Kleingruppen, die Methode LdL (Lernen durch Lehren) kommt dabei ebenfalls zum Einsatz. Im Kontext der Anderswelt bespricht Bärnthaler diverse Riesen, Zwerge und Drachen, wobei auch Konrad von Megenberg, dessen 700. Geburtstag 2009 noch fulminant kommemoriert wurde, Erwähnung findet.

Ein grundsätzliches Problem ist, dass Bärnthalers Konzept, das er 2013/14 am Salzburger Bundesrealgymnasium durchgeführt hat, auf ältere Schüler*innen (zehnte Jahrgangsstufe) zugeschnitten ist, wohingegen das Nibelungenlied in Bayern und anderen deutschen Bundesländern lediglich im Lehrplan der siebten Jahrgangsstufe auftaucht. Insofern ist das vorliegende Buch nur bedingt hilfreich für hiesige Lehrkräfte, nicht nur, was das erforderliche Reflexionsniveau betrifft, sondern auch bezüglich so mancher Zusatzmaterialien. Beispielsweise bezieht Bärnthaler immer wieder ikonografische und filmische Darstellungen mit ein, die „einen liegenden nackten Mann“ zeigen – in der siebten Klasse nur empfehlenswert, wenn man auf ein paar Minuten Unterrichtszeit verzichten will.

Manches Mal scheint zudem eine betrübende Misogynie am Horizont auf. Muss man eine gemalte Kriemhild wirklich als „extrem schlanke, leichenblasse Frau“ beschreiben? Lookism ist ein Problem, dem man nicht unbedingt in dieser Form Vorschub leisten sollte, vor allem da diese Aussage sekundiert wird durch ein grauenhaftes Zitat von Jan-Dirk Müller: „die sexuelle Unterdrückung und frustrierte Sexualität der mädchenhaften femme fragile“. Und auf der letzten Textseite findet sich noch folgendes aussagekräftiges Zitat: „Eine besondere Variante der Menschenverachtung realisiert Kriemhild schließlich, indem sie ihr (einziges) Kind, Ortlieb, ihrer Rache opfert.“

Epochenübergreifend mag vielleicht das Beweihräuchern schlanker, goldlockiger Jünglinge sein, epochenübergreifend ist aber leider ebenfalls das Abwerten von Frauen, die ihrer angeblichen biologischen Programmierung zuwiderhandeln, indem sie entweder keine Mütter oder zu nicht angepassten Müttern werden oder aber Rache nehmen. Dieses Problem scheint auch in Bärnthalers Text immer wieder auf, obwohl gerade die Lektüre des Nibelungenliedes einen geeigneten Rahmen schaffen könnte, um diesen wie auch andere Stereotypen angemessen dekonstruieren zu können. In diesem Sinne liefert Fragen an Hagen dem Titel gemäß zwar mehr Fragen als konkrete Antworten, aber vermag es doch zumindest, Lehrer*innen zur kreativen Auseinandersetzung mit diesem grundlegenden mittelhochdeutschen Werk im Deutschunterricht anzuregen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg