https://www.ellexx.com/de/themen/gleichstellung/der-entscheid-kinderfrei-zu-leben-hat-mich-befreit
Sich bewusst gegen Kinder entschieden hat Verena Brunschweiger. Sie ist 44 Jahre alt, lebt in Bayern und bezeichnet sich selbst unter anderem als sogenannte «Birth Strikerin». Was das bedeutet und welche Herausforderungen daraus resultieren, erzählt Brunschweiger im Gespräch mit ellexx.
«Ich hatte nie einen ausgeprägten Kinderwunsch. Doch ich konnte mir vorstellen, Kinder zu bekommen – und habe lange mit mir gerungen. Dies sicher auch, weil in unserer Gesellschaft Frauen suggeriert wird, dass es komisch und unnatürlich sei, keine Kinder zu wollen. Als ich mich definitiv gegen Kinder entschieden habe, war ich in meinen Dreissigern. Zum Glück habe ich einen feministischen Mann, der meine Entscheidung nachvollziehen konnte.»
Gegen das Tabu
Auch die Zürcherin Nadine Gloor hat sich bewusst für ein Leben ohne Kinder entschieden. Während sich Brunschweiger durchaus vorstellen konnte, eigene Kinder zu haben, sieht das bei Gloor anders aus. Heute ist Gloor 36 Jahre alt und ebenfalls in einer heterosexuellen Beziehung. Ihre definitive Entscheidung gegen Nachwuchs hat sie vor rund sechs Jahren getroffen. Sie sagt:
«Ich habe nie einen Kinderwunsch verspürt. Der Gedanke, einmal Mutter sein zu müssen, hat mich lange Zeit gestresst und gebremst. Mein Partner und ich haben das Thema lange vor uns hergeschoben, aber irgendwann empfand vor allem ich den gesellschaftlichen Druck als zu gross. Ich hatte stark das Bedürfnis, eine Entscheidung zu treffen. Also haben mein Partner und ich Klartext geredet miteinander. Wir haben einfach beide ausgesprochen, was wir dachten. Zum Glück waren wir gleicher Meinung. Der bewusste Entscheid, kinderfrei leben zu wollen, hat mich befreit.»
Verena Brunschweiger
Ich finde es egoistisch, ein Kind zu haben.
So wie Brunschweiger und Gloor geht es vielen Frauen. Obwohl rund 23 Prozent der Schweizer Erwachsenen kinderlos leben und knapp jede fünfte junge Person kein Kind will, ist es immer noch ein Tabu, öffentlich darüber zu sprechen.
Brunschweiger und Gloor haben dies satt – und sprechen genau deswegen öffentlich darüber. Für ein kinderfreies Leben entscheiden sich die wenigsten über Nacht, zu schwer wiegt der Entscheid. Die Gründe dafür sind vielfältig, wie Brunschweiger sagt. Bei ihr im Fokus: der Umweltschutz.
Brunschweiger versteht sich selbst als sogenannte «Birth Strikerin». Das «Birth Strike Movement» wurde 2019 von der britischen Sängerin Blythe Pepino gegründet. Für Blythe war die Gründung des Birth Strike Movements ihre Art zu sagen, dass sie die Hoffnung in die Zukunft verloren hat. Anhänger:innen dieser Bewegung entscheiden sich bewusst dazu, auf Kinder zu verzichten, solange die Menschheit ihre Probleme nicht gelöst hat.
Die Idee dahinter: Zum einen bewahre man ein Kind vor einem dystopischen Leben in einer Welt, in der Tiere aussterben und Ressourcen knapp sind. Zum anderen leiste man den grösstmöglichen Beitrag zur Bekämpfung des Klimawandels. Dazu sagt Brunschweiger:
«Ich finde es egoistisch, ein Kind zu haben. Gerade die Tatsache, wie stark ein Kind der Umwelt schadet, wird oft unter den Tisch gekehrt, das finde ich falsch. Als mir bewusst wurde, welchen Einfluss ein Kind auf den Klimawandel hat, gab das den Ausschlag für meinen endgültigen Entscheid. Alles andere – Fliegen, Autofahren, Ernährung – ist nichts im Vergleich dazu, wie schädlich ein Kind für die Umwelt ist.»
Kein Kind? Gut für die Umwelt
Als Grundlage für Brunschweigers Aussage dient eine Studie der schwedischen Universität Lund, die aufzeigt, dass der Verzicht auf ein zusätzliches Kind die effektivste Massnahme zur Reduzierung des eigenen ökologischen Fussabdrucks ist. Danach erst folgen die Abgabe des Autos, der Verzicht auf Flugreisen und eine fleischfreie Ernährung.
Konkrete Zahlen erwünscht? Bitte sehr: Hat eine Person ein Kind weniger, kann sie jährlich 58,6 Tonnen CO2-Ausstoss sparen. Im Vergleich dazu: Lebt eine Person autofrei, stösst sie jährlich «nur» 2,4 Tonnen CO2 weniger aus.
Allerdings gibt es auch Kritik an dieser Studie. Die verwendeten Zahlen seien so hoch, weil die Autor:innen den CO2-Ausstoss der Kinder, Enkel und Urenkel des geborenen Kindes bis ins Jahr 2400 hinzurechnen, argumentieren Kritiker:innen. Den Macher:innen der Studie wird ebenfalls unterstellt, sie würden sich zu stark auf Massnahmen zur Reduzierung des CO2-Ausstosses konzentrieren, die von Privatpersonen ergriffen werden müssen. Die Rolle von Regierungen, Firmen und Organisationen würde dabei in den Hintergrund rücken.
Brunschweiger bezeichnet sich selbst und ihre Herangehensweise an die Kinder-Frage als sogenannt «utilitaristisch». Was sie darunter versteht, erklärt sie so:
«Ich strebe nach dem, was für möglichst viele gut ist, nicht nur für mich selbst. Ich finde, für die Allgemeinheit ist es besser, wenn es weniger Menschen gibt. Wenn in Indien im Kampf ums Wasser Frauen ermordet werden und ich indirekt mitschuldig bin, weil ich in der reichen westlichen Industriewelt durch ein Kind den Klimawandel verschärfe, finde ich das nicht gut. Wir im globalen Norden verbrauchen enorm viele Ressourcen, produzieren Müll und hohe Emissionen. Die Erde wird dadurch belastet und der Klimawandel vorangetrieben. Das müssen dann die Menschen im heisser werdenden globalen Süden, die zur Flucht gezwungen sind, ausbaden.»
Die innere Überzeugung
Der Entscheid gegen eigene Kinder hat für Nadine Gloor andere Hintergründe und im Gegensatz zu Brunschweiger nichts mit dem «Birth Strike Movement» zu tun. Den definitiven Entscheid traf Gloor aufgrund eines fehlenden Kinderwunsches, sagt sie.
«Ich würde mich nicht zum Birth Strike Movement dazuzählen. Ich bin aus innerer Überzeugung kinderfrei. Selbst wenn mir die Umwelt vollkommen egal wäre, würde ich keine Kinder wollen. Ich bin einfach froh, in dieser Welt keine Mutter sein zu müssen – auch aus politischen und umwelttechnischen Gründen. Ich unterstütze ganz klar gewisse Ansichten dieser Bewegung.
Nadine Gloor
Ich bin einfach froh, in dieser Welt keine Mutter sein zu müssen – aus politischen und umwelttechnischen Gründen.
Ich empfinde oft Weltschmerz, wenn ich sehe, was um mich herum abgeht. So möchte ich nicht einen unschuldigen Sprössling auf die Welt setzen. Ich kann sehr gut verstehen, dass man sich unter diesen Umständen – vielleicht trotz Kinderwunsch – gegen ein Kind entscheidet. Ich bin der festen Überzeugung, dass es für den Planeten besser ist, wenn es weniger Menschen gäbe.
Mir ist bewusst, dass eine sinkende Geburtenrate Probleme für unser System bedeutet, aber wir würden auch dafür eine Lösung finden. Wahrscheinlich würden wir sogar besser leben, in einer intakten Welt, mit mehr Ressourcen. Vielleicht gehöre ich also doch zum Birth Strike Movement.»